Mittwoch, 5. Januar 2011

Carla Bruni

Frau H. hatte raue Hände, faltig, mit langen Fingern, die vom Rauchen ganz gelb waren (nach dem Korrigieren der Klausuren war mein Heft derart mit Rauch getränkt, dass einem Wochen später Zigarettendunst entgegenstieg, wenn man es aufschlug), und Fingernägeln, mit denen sie Augen auskratzte. So stellte ich mir das wenigstens vor. Sie unterrichtete uns in Mathematik und Politik und wir hatten höllische Angst vor ihr. In einem Moment schrie sie uns mit ihrer Reibeisenstimme an, im nächsten setzte sie ihr freundlichstes Lächeln auf. M. nannte sie heimlich Satan, aber ich vergötterte sie. Für die Autorität, die sie ausstrahlte, für die Reibeisenstimme und für ihre seltsame Art von Weiblichkeit. Sie war weder schön noch zierlich, doch sie übte eine unglaubliche Anziehung auf mich aus.

Einmal – und ich weiß wirklich nicht mehr, wie wir darauf kamen – wurden die Nacktfotos Carla Brunis, die derzeit kursierten, zum Thema des Politikunterrichts. Als Frau H. der Diskussionen der Schüler überdrüssig wurde beendete sie das Thema so:

„Ich weiß nun wirklich nicht, was sich alle so über die Nacktfotos der Gattin des französischen Staatspräsidenten aufregen! Wenn die Gute so vor meiner Tür stünde, sagte ich sicher nicht nein. Nur hat sie nichts in meinem Unterricht zu suchen!“

Mein Freund kam nach dem Unterricht zu mir und meinte, dass uns jemand mit solchen Neigungen nicht unterrichten dürfe. Das war der Moment, in dem ich mich von ihm trennte.


Montag, 29. November 2010

Pia



„Pia“. Das war alles, was du riefst. Ich habe dich nicht übersehen. Aber du unterhieltest dich gerade, da wollte ich sicherlich nicht stören. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass das eine nette Unterhaltung war, die du da führtest. Aber ich werte schon lange nicht mehr.
Außerdem schneite es, ich hatte meine Jacke drinnen gelassen und nicht einmal einen Schal um. Und du weißt ja, dass mein Ausschnitt wieder viel zu tief war.
Also lief ich lächelnd an dir vorbei. Du beachtetest mich auch nicht. Scheiße, dachte ich. Scheiße, scheiße, scheiße.
Bedacht tapste ich durch den Schnee, um ja nicht auszurutschen. Raum 205, aha. Warum hängt dieser bescheuerte Raumplan auch draußen?
Deine Gesprächspartnerin hatte sich endlich von dir losgerissen und du hattest dich zum Gehen umgewandt.
Missmutig öffnete ich die Tür, um wieder hineinzugehen, als du meinen Namen riefst. Einfach nur meinen Namen. Und du lächeltest dabei.
Ich mag meinen Namen nicht. Ich finde ihn zu knapp, zu wenig weiblich, zu klanglos. Doch deine Stimme, die diesen Namen rief, verlieh ihm einen ganz anderen Klang. So hatte ich meinen Namen noch nie gehört.
Ich winkte dir und ging wieder rein.
Ich hätte mich ohrfeigen können.

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Vom Schaukeln und Fahrradfahren


„Für mich ist Fahrradfahren die höchste Form von Freiheit, die ein Mensch erleben kann“, sagtest du und schautest auf. „Viele glauben, mit dem Führerschein käme sie, die Freiheit. Aber dieses eine, dieses richtige Gefühl von Freiheit habe ich nur beim Fahrradfahren.

Schau, das ist wie Schaukeln und Flugzeugfliegen. Wenn du schaukelst hast du doch viel eher das Gefühl, wirklich zu fliegen. Als Mädchen liebte ich dieses Kitzeln im Bauch, das ich beim Schaukeln bekam. Und eben auch dann, wenn ich mit dem alten Herrenrad stehend den Kirchberg herunterraste. Ohne zu bremsen.

Und fünfzig Jahre später liebe ich es noch immer.

Glaub bloß nicht, dass ich bremse.“

Donnerstag, 16. September 2010

Die Zeit steht still

Es ist stockdunkel, ich sitze über meinen Schreibtisch gebeugt. In vier Stunden muss ich bereits wieder aufstehen. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich nur mein Spiegelbild, das mich müde ansieht. Dann kann es passieren, dass meine Fantasie wieder mit mir durchgeht. Und zwar immer auf die gleiche Art:

Ich stelle mir vor, dass die Welt stehen bleibt. Alle fallen in einen tiefen Schlaf, atmen weiter, bekommen nichts mehr mit. Ein bisschen wie in Dornröschen. Nur ich allein kann mich auf eine nächtliche Reise begeben. Ich setze mich ins Auto. Alles scheint möglich zu sein.
Doch ich habe nur ein Ziel. Auf der Landstraße biege ich rechts ab. Ich muss vorsichtig um alle anderen Autos, die mitten auf der Straße stehen geblieben sind, herumfahren. Die Menschen in den Autos schlafen friedlich. Die Straße führt mich durch mehrere Ortschaften. Der Weg zu dir ist nicht lang, aber ich komme nur langsam vorwärts. Ich biege von der Hauptstraße links ab und fahre durch das kleine Dorf mit den vielen Bauernhöfen. Rechts, links, rechts, bis ich vor deinem Haus stehe. Den Weg kenne ich im Schlaf, auch wenn ich ihn nur zweimal gefahren bin. Ich stelle den Motor aus und kurbele das Fenster herunter. Die kalte Luft lässt mich schauern. Ich atme tief durch, versuche die Anspannung loszuwerden, und steige aus dem Auto.

Ich drehe am Knauf der Haustür, die Tür springt mit einem leisen Klacken auf. Ich trete ein und schließe die Tür hinter mir. Mir steigt sofort dein wohlbekannter Geruch in die Nase. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Ich stehe in deinem Flur, vor mir die Korbstühle mit dem schönen, verschlungenen Tisch in der Mitte. Rechts von mir zwei Türen: die eine führt ins Gästebad, in dem über dem Waschtisch dein Lieblingsgedicht von Hilde Domin hängt, die zweite Tür führt in die Küche. Erinnerst du dich an unser gemeinsames Kochen? Erinnerst du dich daran, dass ich Kräuter in deinem Garten entdeckte, von denen du selbst nicht wusstest, dass sie dort stehen?
Erinnerst du dich an das wunderschöne Glas, das zerschlug, und die Scherben, die sich auf den Küchenfliesen verteilten? Du lachtest nur. „Davon habe ich bestimmt noch zwanzig“, sagtest du bloß.
Links von mir die Treppe, die ins Obergeschoss führt und in den Keller, in dem du die Bücher hortest, die nicht in die Regale passen.
Ich gehe an Korbstühlen und Tisch vorbei und stehe vor der Tür, die ins Wohnzimmer führt. Im Wohnzimmer schalte ich die kleine, kunstvoll gearbeitete Lampe ein, die warmes, schummriges Licht in den Raum wirft.

Ich staune darüber, wie gut meine Erinnerung ist. Alles ist noch genauso wie an diesem wunderbaren Wochenende, das nun schon so lange zurückliegt. Die Regale an den Wänden, voll mit Büchern und Teekannen und Teedosen, die du sammelst, das alte Klavier, das so schrecklich verstimmt ist, der Esstisch und die dazu passenden Stühle, für die du durch ganz Deutschland gereist bist, die Leseecke mit den gemütlichen Sesseln, die fuchsiafarbenen Vorhänge, deine Kunst an den Wänden. Es gibt keinen Raum, in dem ich lieber ein Leben lang eingesperrt wäre. Ich lasse meinen Blick schweifen und entdecke auf einem der Lesesessel ein Buch. John von Düffel, ich muss lachen. Es gehört eindeutig dir.

Ich knipse das Licht wieder aus und schließe die Wohnzimmertür hinter mir. Mein Weg führt zur Treppe, die ich ohne ein Geräusch emporsteige. Vom Gang, der vor mir liegt, gehen vier Türen ab. Hinten links, das ist das Schlafzimmer. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die Tür öffne.
Da liegst du, in weißen Betten, von denen ich weiß, dass deine Mutter sie vor vielen, vielen Jahren bestickt hat.

Die Dämmerung setzt ein.

Deine kurzen Locken umrahmen dein Gesicht, das im Schlaf so friedlich aussieht. Ich setze mich auf die Bettkante. Ruhig atmest du ein und aus.
Deine Hände schauen unter der Decke hervor. Deine schönen Hände und die zarten Unterarme.
Ab und zu regt sich etwas in deinem Gesicht. Es wird ernst, dann entspannt es sich wieder. Deine Lippen deuten ein zartes Lächeln an. Dafür kannst du nichts, das sind deine schönen Mundwinkel, die immer ein Stück nach oben zeigen.
Was deine blauen Augen hinter den geschlossenen Lidern jetzt wohl sehen?
Ich wünschte, ich könnte für immer hier sitzen.

Mittwoch, 25. August 2010

Fallen


Heute bin ich aus dem Rahmen gefallen. Und du aus der Rolle.
Du hast mich aus dem Rahmen fallen lassen, du beugtest dich zu mir und sagtest: "Bei mir gibt es viele Faulpelze."
Du hast mich aus der grauen Masse gezogen.
Du wusstest, ich würde dich verstehen.

Du bist aus der Rolle gefallen, weil du für fünfzig Minuten deine Korrektheit vergessen hast.

Fünfzig Minuten, in denen dir alles egal ist, in denen du ein so großes Risiko eingehst.
Fünfzig Minuten, in denen du ein Stückchen Zucker auf dem Milchschaum deines Cappucinos zerbröselst. Du hast die Angewohnheit, jede Sache dir zu eigen zu machen, ihr etwas Besonderes zu verleihen.
Fünzig Minuten, in denen du nachdenkst, und über deine eigenen Gedanken lachst.
Fünfzig Minuten sind wertvoll.

Im Hinterkopf habe ich die Worte eines Mädchens, das keine Ahnung hat.

"Darf man das?"



Ich sehe die Tasse vor mir, zerkrümelter Zucker, rote Spuren am Rand.

-Ja, man darf.